Christiania is the losers’ Paradise for the creative and recreational values which we all look for.
Susanne Jacobi, aus: Christiania Guide
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Kreativer Häuserbau und bunte Impressionen in Christiania |
Auf meiner Minicruise durch den Norden nach Kopenhagen und Oslo musste ich natürlich der Hippie-Freistadt Christiania unbedingt einen Besuch abstatten.
Als im September 1971 protestierende Gruppen die Zäune zu leerstehenden Gebäuden vom Militär auf der Stadtinsel Christianshavn niederrissen, war noch nicht abzusehen, dass aus dem
Protest eine ganze Bewegung werden würde, die bis heute andauert und von der dänischen Regierung als "autonome Kommune" geduldet wird.
Schon nach einem Monat wurde Christiania als Freistadt vom Journalisten Jacob Ludvigsen ausgerufen. Eine neue Gesellschaft war das Ziel und die Hoffnung, und der basisdemokratische Gedanke passte in die Zeit der Alternativen und ebenso zum Dänischen Volk. Das tut es im Grunde bis heute: Auch wenn die letzte Regierung dafür sorgte, dass ein "Normalisierungsprozess" in Gang gebracht wurde, passt Christiania als alternative Lebensweise zum
Marketingkonzept der Stadt, die als "menschlich" und "weniger förmlich" wahrgenommen werden soll. Christiania ist heute eine der größten Touristenattraktionen der Stadt.
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Info-Café hinter dem Eingang und die Fahne von Christiania: Die drei gelben Punkte auf rotem Grund stehen für die i-Punkte in "Christiania" und sind Symbole für Liebe, Hoffnung und Freiheit. |
2011 brachten die Christianiter mit einer Volksaktie genug Geld für das Grundstück zusammen, um von der Regierung eine weitere Duldung zu erreichen. Regulär wird eine Miete für Strom, Wasser und die Müllabfuhr gezahlt. Mietverträge gibt es jedoch in Christiania nicht, wer bleiben möchte, muss die Zustimmung des Basisdemokratischen Rates der ca. 1000 Einwohner erhalten, und die ist in der Regel gegeben, wenn sich ein Christianiter für denjenigen ausspricht. Besetzte Wohnungen dürften wiederbesetzt werden, wenn sie nicht bewohnt sind. So einfach ist das.
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"Kauf eine Volksaktie, unterstütz Christiania" |
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Die großen Baracken dienten früher als Lagerräume, teilweise für das Militär |
Ich recherchiere ein bisschen im Internet und lese auf der Seite von Visitcopenhagen: "Die Polizei geht davon aus, dass die Gegend um die Pusher Street von organisierten kriminellen
Banden kontrolliert wird. Die Bewohner haben deshalb selbst Sicherheitsregeln aufgestellt, und sie raten den Besuchern, diese auf jeden Fall einzuhalten." Puh. In meine Vorstellung von weißhaarigen, mit wallenden Kleidern und Blumenkränzen geschmückten Frauen, die auf den Wiesen tanzen, schieben sich Grüppchen von dreckigen und mies dreinschauenden Aggro-Typen. Und ich sollte gar nicht so falsch liegen.
Es ist Sonntag Mittag, ich erwarte relativ viele Touristen und dänische Ausflügler, aber dem ist nicht so. Als eine der wenigen Touristen gehe ich durch ein Tor schräg gegenüber der Erlöserkirche und werde sofort argwöhnisch angeschaut, denn ich habe meine dicke Kamera noch um den Hals.
Noch, denn in der Pusher Street, der Straße, in der die (weichen) Drogen verkauft werden, darf nicht fotografiert werden, was ich schon vorher wusste, dennoch hält mich sofort eine Christianitin an und erklärt mir, dass ich ab der Pusher Street auf keinen Fall fotografieren soll. Mir wird ein bisschen ungemütlich.
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Seiteneingang von Christiania gegenüber der Erlöserkirche |
Sehr schnell ist klar, dass hier eigentlich überhaupt nicht fotografiert werden soll: Die Dealer, die ziemlich einfach auszumachen sind, und deren Kunden bleiben nicht in der Pusher Street, sie laufen überall herum,
gehen Mittagessen oder entspannen sich beim Kiffen irgendwo auf dem Gelände und wollen natürlich auch dort nicht abgelichtet werden. Einige laufen deshalb gleich vermummt umher - na das macht doch gleich eine superfriedliche Stimmung.
Mein iPhone, das ich mir genau für diese Fälle gekauft habe, nehme ich dennoch in die Hand und fotografiere hier und da, wenn ich das Gefühl habe, dass gerade niemand außer ein paar Touristen hinschaut. Hinterher bin ich froh,
den SPON-Artikel nicht vorher gelesen zu haben, ich hätte mich vermutlich gar nicht getraut, auch nur ein einziges Foto zu machen.
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Skulpturen, Mosaike, bemalte Wände: Christianias Häuser und Wege sind bunt |
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Fotografieren erwünscht - erleichtert nutze ich diese Einladung |
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Restaurant und Versammlungshaus |
An den Ständen mit typischem Ethno-Tourikram und Reggae-Musik gehe ich vorbei und lande auf einem Platz mit einigen Imbissbuden. Bis auf die wenigen Touristen sehen die meisten Leute hier ziemlich dreckig und fertig aus und gucken mich aus rotgeränderten, glasigen Augen an. Fast komme ich mir vor wie in einem billigen Film, so klischeehaft treffen hier alle meine vorurteilsbeladenen Gedankenbilder zu. Von den Öko-Späthippies, wie ich sie aus meinem Friedenauer Kiez in Berlin kenne und hier erwartet hatte, sehe ich niemanden. Und auch die blumenbekränzten Leute haben sich vermutlich in ihre Hütten zurückgezogen. Oder?
Die Pusher Street lasse ich schnell hinter mir, die Stände und mit Tüchern abgeschottete Buden muss ich genauso wenig begutachten, wie ich von den grüppchenweise herumstehenden Dealern und deren Kunden taxiert werden möchte.
Jetzt geht es vorbei an vielen bunten und kreativ gestalteten Häusern, wo mein Herz ein bisschen aufgeht. Als Inspirationsquelle könnte ich hier einen ganzen Katalog von Bildern machen, jetzt versuche ich, mir alles einzuprägen.
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Sieht manchmal aus wie von Architekten gebaut: Anders Leben in Christiania |
Einmal schaue ich in einen der vielen Shops, in denen Kunsthandwerk und
Allerleikram verkauft wird - ein Traum an Kreativität und Hippiecharme!
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Werkstatt und Shop "Kvindesmedien" |
Wieder draußen möchte ich mich aber sofort irgendwohin verziehen, denn einzig bekiffte und fies aussehende Leute scheinen hier heute unterwegs zu sein, die Stimmung ist komisch und ich gehe im Alarm-Alert umher.
Als ich am Kanalufer ankomme und abseits ein bisschen ausspannen will, entdecke ich eine Person im Gras liegend, das Gesicht nach unten und irgendwie liegen die Beine komisch. In Berlin würde ich sofort schauen, ob der Mensch Hilfe braucht - hier aber fühle ich mich total fremd und verunsichert und suche lieber das Weite.
Als ich am Horizont dicke Regenwolken aufkommen sehe, bin ich froh, eine Entschuldigung zu haben und mich aus Christiania davonzumachen. Irgendwie lud die Stimmung nicht ein, mich mit Bewohnern zu unterhalten. Schade, es hätte ganz schön sein können, denke ich bei mir.
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Ein Teil Christianias liegt am anderen Ufer. Eine Brücke verbindet beide Teile. Autofahren darf man hier nicht. |
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Nebenstraßenimpression: Ruhig |
Fazit:
Wer Christiania besuchen
möchte, tut dies vielleicht besser mit einem einheimischen Guide, es werden Führungen angeboten. Sicherlich sind nicht alle 1000 Bewohner fiese Drogendealer, nur leider war es für mich nicht ganz einfach, die
sympathischen Peaceharmoniker vor Ort auszumachen, denn die haben offensichtlich die Drogendealerei und das damit verbundene Milieu nicht mehr im Griff. Dennoch würde ich die Gelegenheit nicht missen wollen, sich selbst einen Eindruck der "Freistadt" zu verschaffen.
Ergo: Leute, Hände weg von den Drogen, die machen leider dumm und eklig.
TTT - TierischeTouriTipps
Hinkommen:
- Zu Fuß ca. 25 Minuten vom Nyhavn bis zum Eingang Christianias, der schräg
gegenüber der "Vor Frelsers Kirke" (Erlöserkirche) auf der Prinsessegade
in Christianshavn liegt.
- Nächtgelegene Haltestelle: Skt. Annæ Gade, Bus 9a
Infos:
- Wegvorschlag
- Laut Visitcopenhagen gibt es im Sommer geführte Touren, täglich um 15 Uhr.
- Auf keinen Fall in der Pusher Street, der Drogenverkaufsstraße fotografieren! Am Besten auf dem ganzen Gelände nur fotografieren, nachdem man gefragt hat. Legal wird übrigens nur Marihuana verkauft, harte Drogen sind verboten.
- Am Eingang gibt es das Café Info und Läden mit Kunsthandwerk. Anschließend geht's durch die Pusher Street. Der Kunsthandwerk-Laden "Kvindesmedien" ist einen Besuch wert. Hier biegt man nach links und kommt zum Café "Månefiskeren". Wieder nach links kommt man in die Langgade, in der sich das vegetarische Restaurant „Morgenstedet“ befindet (geöffnet Dienstags bis Sonntags ab 12 Uhr). Bei der buddhistischen Stupa geht es dann nach rechts
bis zum Ufer und zur Brücke. Hinter der Brücke nach rechts am Wasser hat man eine schöne Aussicht, interessante Häuser und kommt zur
Torvegade, wo die Buslinie 2A zurück zum Hauptbahnhof und zum
Rathausplatz fährt.
- christiania.org, leider nur auf dänisch
- Tipp: Wer wie ich hinterher erstmal seinen Kopf ordnen möchte, kann sich auf der Torvegade ein Stück weiter Richtung Innenstadt für 5 Euro einen großen Latte Macciato und eine Zimtschnecke im Café Baresso leisten und hat gleichzeitig noch freien und schnellen Zugang zum Internet.
Literatur:
Disclaimer: Mein Aufenthalt in Kopenhagen war Teil einer
Reiseeinladung
von DFDS Seaways, die ein #PDRBschiff von Kopenhagen nach Oslo zur
Verfügung stellten, ganz herzlichen Dank dafür. In Kopenhagen war ich allerdings auf
mein eigenes Gutdünken unterwegs.